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Interview mit dem Kasseler Integrationsbeauftragten

„Ein sinnvoller Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Existenzsicherung migrantischer Betriebe“

Vor dem Hintergrund eines wachsenden Fachkräftebedarfs und des demografischen Wandels sind migrantische Unternehmen ein zunehmend bedeutender Wirtschaftsfaktor in Städten, Kreisen und Gemeinden. Um den Aufbau von Gründungsunterstützungsstrukturen für Migrantinnen und Migranten in Kassel zu fördern, gibt es seit Anfang des Jahres das IQ Projekt „Existenzgründung und Vernetzung Interkulturell (EXIK)“. Welchen Mehrwert der Kasseler Integrationsbeauftragte in dem Projekt sieht und welche Angebote es braucht, um ausländische Fachkräfte nach Kassel zu ziehen, dazu äußert sich Carsten Höhre im Interview mit der Koordination des IQ Netzwerks Hessen.

Herr Höhre, weshalb braucht es für die Stadt Kassel und den Landkreis ein Angebot wie EXIK?

Carsten Höhre: Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund nehmen deutlich weniger Beratungsangebote wahr als solche ohne Migrationshintergrund. Dies gilt auch für die Stadt und den Landkreis Kassel. Sie sind im Laufe der Gründung mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Dazu zählen die Sprache und Kenntnisse über das Gründungssystem in Deutschland. Schon allein deshalb ist der proaktive Ansatz von EXIK ein sinnvoller Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigen Existenzsicherung migrantischer Betriebe.

Wo sehen Sie den Mehrwert für die Gründungsberatung und Migranten(selbst)organisationen?

Carsten Höhre: Das Kasseler Integrationskonzept postuliert zu Recht, dass Integration alle Kasseler Bürgerinnen und Bürger – ob mit oder ohne Migrationshintergrund – etwas angeht. Dies beinhaltet reale Vernetzungen, die unter anderem auch durch EXIK ermöglicht werden. Namentlich migrantische Organisationen laufen häufig Gefahr, sich ausschließlich im Rahmen der jeweiligen Community zu orientieren, zu agieren und den Kontakt zu anderen Communities und länger hier lebenden Menschen auf einige wenige kulturelle Events im Jahr zu beschränken. Der Mehrwert des Projekts liegt für alle in einem echten Austausch auf Augenhöhe. Das Thema Existenzgründung muss sichtbar gemacht und professionalisiert werden. Eine gute Vernetzung mit der Gründungsberatung bietet dafür die Grundlage.

„Der Mehrwert des Projekts liegt für alle in einem echten Austausch auf Augenhöhe. Das Thema Existenzgründung muss sichtbar gemacht und professionalisiert werden.“

Welchen Beitrag können migrantische Gründerinnen und Gründer zur Fachkräftesicherung leisten?

Carsten Höhre: Unter migrantischer Ökonomie wird nur allzu oft ein Mix aus gastronomischen Betrieben, kleinen Dienstleistern und Import/Export-Geschäften verstanden. Das bildet in einer Universitätsstadt wie Kassel nicht die Realität ab. Immer mehr Migrantinnen und Migranten gründen Unternehmen aus dem universitären Umfeld heraus, sind im Kasseler Science Park aktiv oder streben sogar eine Positionierung im internationalen Wettbewerb an. Fast 40 Prozent der Stadtbevölkerung haben einen Migrationshintergrund, bei Jugendlichen sind es über 60 Prozent. In diesen Größenordnungen können nicht nur, sondern müssen migrantische Gründerinnen und Gründer einen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Hier gilt es, auch schon länger am Markt agierende Unternehmen als Ausbildungsbetriebe im Dualen System zu gewinnen.

EXIK bietet interkulturelle Kompetenzentwicklung für Gründungsberatungsstellen und Wirtschaftsorganisationen an. Weshalb halten Sie eine interkulturelle Öffnung dieser Institutionen für wichtig?

Carsten Höhre: Die im Grundgesetz verankerte freiheitlich-demokratische Grundordnung garantiert allen in Deutschland lebenden Menschen die Gleichheit vor dem Gesetz. Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Heimat und Herkunft, seiner Sprache und seiner religiösen und politischen Weltanschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Deshalb müssen wir auch in Kassel zwei Herausforderungen meistern: die interkulturelle Öffnung und den Abbau vorhandener Benachteiligungen.

Die interkulturelle Öffnung ermöglicht allen Menschen in unserer Stadt die Wahrnehmung und Nutzung von Einrichtungen und Angeboten. Durch den Abbau von Benachteiligungen werden Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe hergestellt. Dies gilt selbstredend und vollumfänglich auch für Gründungsberatungsstellen und Wirtschaftsorganisationen.

Viele Gründungsinteressierte kommen aus Staaten, deren Gesellschaft und Wirtschaft sich von der deutschen fundamental unterscheiden. So kann auch das Kundenbild der Gründerinnen und Gründer von Erfahrungen in anderen sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen geprägt sein. Dies kann Auswirkungen auf Konsumentscheidungen haben und dazu führen, dass die Marktchancen des eigenen Produkts unter Umständen falsch eingeschätzt werden. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Gründungsberatenden Werkzeuge an die Hand zu geben, um ihre Beratung mit Blick auf den Aspekt der Vielfältigkeit zu schärfen.

„Es ist wichtig, Gründungsberatenden Werkzeuge an die Hand zu geben, um ihre Beratung mit Blick auf den Aspekt der Vielfältigkeit zu schärfen.“

Das Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung (IQ)“ setzt sich auch für die Stärkung der Migrantenökonomie ein und unterstützt Migrantinnen und Migranten, die bereits gegründet haben oder ein Unternehmen führen. Welchen Handlungsbedarf sehen Sie für diesen Bereich?

Carsten Höhre: Neben der Existenzgründung ist die Existenzerhaltung natürlich ein zentrales Thema. Ich sehe hier auch für Kassel einen entsprechenden Handlungsbedarf. Namentlich in den ersten Jahren der Marktetablierung ist eine weitere Unterstützung notwendig, um eventuellen strategischen Fehlentwicklungen zu entgegnen und praktische Tipps für eine weitere Optimierung zu vermitteln.

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ermöglicht die Einwanderung für Fachkräfte, die in Deutschland ein Unternehmen gründen oder sich als Selbständige niederlassen wollen. Welche Unterstützungsangebote könnten hierzu im Raum Kassel hilfreich sein?

Carsten Höhre: Kommunen müssen sich auch wegen des demografischen Wandels im Wettbewerb um gut ausgebildete Fachkräfte etwas einfallen lassen. Ob es gelingen kann, Fachkräfte aus dem Ausland zu gewinnen und sie an den Standort zu binden, ist von der Attraktivität dieses Standorts unmittelbar abhängig. Eine offene Haltung der Bürgerinnen und Bürger, eine aktive Zivilgesellschaft sowie international ausgerichtete Bildungs-, Betreuungs-, Kultur- und Freizeitangebote sind Standortvorteile. Dies darf nicht unterschätzt werden. Sinnvoll wäre eine Koordinierungsstelle, welche die vielfältigen Unterstützungsangebote jeweils passgenau für Bewerberinnen und Bewerber bündelt und präsentieren kann.

Als künftige Entwicklung sehe ich unter anderem den Wegfall der Unterscheidung von migrantischen und nicht-migrantischen Unternehmen. Im Personalbereich sind viele Unternehmen schon seit langem international aufgestellt. Vorreiter waren zunächst die international agierenden Konzerne, mittlerweile reicht diese Entwicklung aber tief in das KMU-Segment hinein. In einigen Jahren werden wir vor allem von Kasseler Unternehmen sprechen, unabhängig von der Herkunft der Führungskräfte, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Höhre.

Das komplette Interview ist auch als PDF verfügbar: Interview Carsten Höhre (PDF 255 KB)

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